DEN HAAG (dpa-AFX) - Die Ukraine hat den Internationalen Gerichtshof (IGH) aufgerufen, in einem rechtlich bindenden Urteil die Beendigung der russischen Invasion ihres Territoriums anzuordnen. Russland habe sein Land unter Missbrauch der Völkermordkonvention überfallen und müsse zur Rechenschaft gezogen werden, erklärte der Vertreter der Ukraine, Anton Korynevych, am Dienstag vor dem auch als Weltgericht bezeichneten IGH in Den Haag. Kiew verlangt zudem, dass Moskau zur Zahlung von Reparationen verurteilt wird.
Am Vortag hatte der Vertreter Russlands, Gennadi Kusmin, die Abweisung der ukrainischen Klage gefordert. Der Verweis der Ukraine auf einen angeblichen Missbrauch der Völkermordkonvention durch Russland sei nicht haltbar. Kiew versuche auf diese Weise, eine Zuständigkeit des IGH zu begründen. Diese Rechtsposition sei aber "fehlerhaft".
Die Ukraine hatte den IGH bereits wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen im Februar 2022 angerufen. In der Klage wird Moskau vorgeworfen, die Invasion mit der falschen Behauptung begründet zu haben, die russische Bevölkerung in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk müsse vor einem Völkermord geschützt werden.
Dass die Ukraine ihre Klage auf einen mutmaßlichen Missbrauch der Völkermordkonvention durch Russland stützt, hängt mit dem Statut des IGH zusammen. Demnach hat das höchste UN-Gericht nur Entscheidungsbefugnis, wenn bei Streitparteien verbindlich erklärt haben, seine Rechtsprechung anzuerkennen. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den mehr als 70 Staaten, die entsprechende Unterwerfungserklärungen abgegeben haben. Hingegen ist die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes 1954 von Russland und der Ukraine ratifiziert worden. Für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Konvention ist der IGH zuständig.
Bis zu einer Entscheidung des Gerichts kann es Experten zufolge etliche Monate dauern. Einen ersten juristischen Erfolg hatte die Ukraine im März 2022 erreicht, als der Gerichtshof in einer einstweiligen Verfügung anordnete, dass Moskau die Gewalt beenden muss. Russland lehnte dies ab. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte: "Am Internationalen Gerichtshof gibt es das Konzept des Einvernehmens zwischen den Parteien. Hier kann es keinerlei Einvernehmen geben."
Der IGH besitzt keine Mittel, um einen Staat zu zwingen, seine Urteile umzusetzen. Es könnte den UN-Sicherheitsrat anrufen. Dort kann Russland jede Entscheidung per Veto blockieren./pau/DP/nas