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Mittendrin – Finanzbegriffe kurz erklärt

„Sell in May and go away"

Mythos oder tatsächlich
hilfreiche Anlagestrategie?

Der Satz „Sell in May and go away" gehört zu den bekanntesten sogenannten Börsenregeln und suggeriert Investoren, dass durch geschicktes Timing die Anlagerendite verbessert werden kann.

Ursprung und Varianten des Sprichworts

Das ursprüngliche Sprichwort kommt aus England – bereits aus dem 18. Jahrhundert und lautete im Original „Sell in May and go away, come back on St. Leger's Day". Der St. Leger's Day bezog sich auf ein bedeutendes Galopprennen für dreijährige Stuten und Hengste, welches seit 1776 im englischen Doncaster in South Yorkshire jedes Jahr im September gelaufen wird. Pferderennen – aber auch die Börse – waren in früheren Jahrhunderten den Aristokraten vorbehalten. Und die waren wirtschaftlich so privilegiert, dass sie tatsächlich von Mai bis September nicht nur ihre Geschäfte ruhen ließen, sondern sich dem gesellschaftlichen Leben auf dem Land widmen konnten.

Heute werden für den zweiten Teil des Sprichworts verschiedene Versionen verwendet:

  • „Sell in May and go away but remember to come back in September" – die heute gebräuchlichste Form
  • „Sell in May and go away but remember to come back in November" – eine konservativere Variante
  • „Sell in May and go away, come back on St. Leger's Day" – die historische Originalversion

Das Problem der ungenauen Definitionen

Ein fundamentales Problem aller Varianten liegt in ihrer mangelnden Präzision. Keine der Versionen definiert klar, ob der Verkauf am Monatsanfang oder -ende erfolgen sollte. Ebenso bleibt offen, wann genau der Wiedereinstieg zu erfolgen hätte. Diese Unschärfe führt zu erheblichen Interpretationsspielräumen:

  • Bedeutet „Sell in May" den ersten oder letzten Handelstag des Monats?
  • Bezieht sich „come back in September" auf den Monatsanfang oder erst auf den Herbstbeginn?
  • Welche spezifischen Handelstage sind beim St. Leger's Day gemeint, der traditionell Mitte September stattfindet?

Diese fehlende Präzision macht eine systematische Bewertung der Strategie schwierig und öffnet Raum für selektive Interpretation der Ergebnisse.

Empirische Bewertung der verschiedenen Varianten

Statistische Auswertungen zeigen durchaus Unterschiede zwischen den Varianten:

  • September-Variante1: Historische Analysen zeigen, dass der Sell-in-May-Effekt das Phänomen überdurchschnittlich hoher Kapitalmarktrenditen in den Monaten Oktober bis April beschreibt. Eine Rückkehr im September – im Gegensatz zur November-Variante – umfasst mit dem Oktober bereits einen zusätzlichen Monat dieser Periode. Wobei anzumerken ist, dass der Oktober selbst oft auch durch starke Volatilität geprägt war.
  • November-Variante2: Diese konservativere Herangehensweise vermeidet den historisch schwächeren September. Historisch gesehen ist der September der schlechteste Monat an vielen großen Aktienmärkten – und das gilt für beide Seiten des Atlantiks.
  • St. Leger's Day3: Diese spezifischste Variante bezieht sich auf ein konkretes Datum Mitte September und bietet theoretisch die präziseste Timing-Vorgabe.

Kritische Würdigung: Saisonalität versus Markt-Timing

Es ist beim Investieren grundsätzlich zu beachten, dass vergangene Saisonalitäts-Muster, selbst wenn sie über eine längere Phase rückwirkend signifikant waren, oft keine zuverlässigen Aussagen über zukünftige Wertentwicklungen machen können.

Eine fundamentale Schwäche aller „Sell in May"-Varianten liegt in ihrem Widerspruch zu einer der bewährtesten Anlageweisheiten: „Time in the Market is better than timing the market". Diese Regel besagt, dass es für langfristig orientierte Investoren grundsätzlich besser ist, dauerhaft investiert zu sein und nicht zu versuchen geeignete – jahreszeitliche oder andere – Kauf- und Verkaufszeitpunkte zu finden.

Letztere basiert auf mehreren Erkenntnissen (zumindest auf Phasen in der Vergangenheit bezogen):

  • Verpasste Chancen: Wer den Markt verlässt, riskiert die besten Handelstage zu verpassen. Historische Daten zeigen, dass ein Großteil der jährlichen Aktienmarktrenditen oft an wenigen Handelstagen erwirtschaftet wird – und diese können auch in den vermeintlich schwächeren Sommermonaten auftreten.
  • Transaktionskosten: Jeder Verkauf und Wiederkauf verursacht Kosten, die die theoretischen Vorteile der Saisonalität schmälern können.
  • Steuerfragen: Der systematische Verkauf von Positionen kann zu ungünstigen steuerlichen Konsequenzen führen, die sich bei jedem Anleger je nach individueller steuerlicher Veranlagung unterschiedlich auswirken können.

Die schwindende Relevanz der Saisonalität

Vor allem aber ist zu beachten, dass saisonale Effekte über die Zeit tendenziell schwächer geworden sind. Dies liegt an mehreren Faktoren:

  • Institutionalisierung: Der heutige Kapitalmarkt wird zunehmend von institutionellen Investoren dominiert, die ganzjährig aktiv sind und – noch weniger als gegebenenfalls im Sommer urlaubende Privatanleger – den saisonalen Gewohnheiten der historischen Aristokratie folgen.
  • Globalisierung: Die Strategie wanderte über den Atlantik und in den USA entstand ein vergleichbarer zeitlicher Rahmen. Einige Investoren und Anleger lassen vielleicht bis heute ihre Investments an der Börse zwischen dem Memorial Day (Mai) und dem Labor Day (September) ruhen. Doch in einer globalisierten Welt mit verschiedenen Zeitzonen und Urlaubsgewohnheiten verliert die europäisch-amerikanische Saisonalität an Bedeutung.
  • Algorithmischer Handel: Moderne Handelsalgorithmen erkennen und arbitrieren saisonale Anomalien weg, wodurch deren Wirksamkeit abnimmt.

Praktische Empfehlungen für Investoren

Für Bankkunden ergeben sich aus dieser Analyse mehrere praktische Schlussfolgerungen:

  • Langfristige Perspektive: Anstatt zu sehr auf Saisonalität und Timing-Strategien zu setzen, können Investoren eine langfristige Buy-and-Hold-Strategie verfolgen, die bessere risikoadjustierte Renditen liefern kann.
  • Diversifikation statt Timing: Statt den Markt zu timen, können Anleger auf eine breite Diversifikation über Anlageklassen und Regionen setzen.
  • Systematische Sparpläne: Regelmäßige Investitionen durch Sparpläne nutzen den Cost-Average-Effekt und eliminieren die Notwendigkeit des Market-Timings.
  • Individuelle Situation: Anlageentscheidungen können sich an der persönlichen Risikobereitschaft, dem Anlagehorizont und den finanziellen Zielen orientieren – nicht an Jahrhunderte alten Börsensprichwörtern.

Fazit

Obwohl „Sell in May and go away" in all seinen Varianten eine faszinierende historische Börsenweisheit darstellt, eignet es sich – zumindest isoliert betrachtet – nicht als Grundlage für moderne Anlageentscheidungen. Die mangelnde Präzision der Definitionen, die schwindende empirische Evidenz und der Widerspruch zu bewährten Anlagestrategien sprechen gegen eine systematische Anwendung.

Erfolgreiches Investieren basiert nicht auf dem Timing saisonaler Schwankungen, sondern auf einer durchdachten, langfristigen Strategie, die Diversifikation, Kostenkontrolle und Disziplin in den Mittelpunkt stellt. In einer Zeit, in der institutionelle Investoren und Algorithmen die Märkte dominieren, können Privatanleger auf bewährte Prinzipien des Vermögensaufbaus setzen – unabhängig davon, ob gerade Mai oder September ist.

 

Ein Mann sitzt mit einem Laptop auf einer Bank vor einer Reihe von Hochhäusern.

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